Seit meinem letzten Artikel sind einige Tage vergangen, aber der Titel stimmt immer noch: Es scheint auch in Spanien nicht jeden Tag die Sonne. Heute morgen in einem Vorort von Zaragoza (die Deutschen schreiben mit einem Buchstaben mehr aber sehr viel weniger ausführlich Saragossa) von Regentropfen aufgewacht, die auf das Dach des alten Herrn Magirus trommelten. Das Wetter macht zur Zeit einige Kapriolen. Sturm mit Regen, Sturm ohne Regen, Sturm mit Sonnenschein, zwischendurch mal nur Sonnenschein, dann zur Abwechslung mal wieder Regen. 😉
Die Fahrt auf der Nacional 330 in Richtung Zaragoza mit sintflutartigen Regenfällen hatte so an meiner Laune geknabbert, daß ich vorhatte, in dieser Stadt nur meine Wäsche zu waschen und ein paar Einkäufe zu erledigen, um dann im Sauseschritt über die Pyrenäen nach Südfrankreich hinüberzuwechseln. Auf der Suche nach einem Übernachtungsplatz für uns zwei Vagabunden sind wir dann aber an die Kante der Hochebene über Zaragoza hinaufgeklettert, und diese Landschaft hat mich dann total gepackt.
Man müßte etwas fitter in Geologie sein . . . Zaragoza liegt am Ufer des Ebro, wo von Süden der Huerva und von Norden der Gallejo mündet. Da sich die deutsche Wikipedia der Geologie enthält, die spanische sich mir immer noch nicht recht erschließt, verweise ich auf ein als Google-Ebook gefundenes Werk von 1835 eines Herrn Schweizerbart. Die Flüsse haben sich in eine im Tertiär gebildete Sedimentschicht im Lauf der Zeit mal schlappe vierhundert Meter eingegraben, im Übergangsbereich der Flußtäler zur übriggebliebenen Hochebene bildete sich diese Landschaft aus gerundeten Hügeln und scharfen Kämmen aus Kalksediment, das durch um die zwanzig Zentimeter dicke waagrechte Schichten von Marmor beziehungsweise Bruchkiesel davon strukturiert wird. Atemberaubend! Und durch die Kontraste von weiß bzw Hellgrau und dem grünen Bewuchs, der im Kleinen aus duftendem Thymian und Rosmarin, im Größeren aus Pinien besteht, auch (photo-)graphisch sehr interessant. Allerdings nicht einfach einzufangen, vor allem nicht, wenn ein wütender Sturm jede zweite Panoramaaufnahme verwackelt, trotz schwerem Equipment 🙁
Diese beiden Bilderchen jedenfalls ¡unbedingt! durch Klick vergrößern, auch wenn ich nicht so recht damit zufrieden bin. Beide müßten riesengroß an der Wand hängen, um den Eindruck nachvollziehbar zu machen, den ich hatte, und das zweite sollte durch eine Serie bei besserem Licht ersetzt werden, was aber wie gesagt der Sturm vereitelte . . .
Im Lauf der Zeit . . . das ist so ein Ding, das ich bei der Gelegenheit nochmal ansprechen muß, auch wenn der eine oder andere das wahrscheinlich weniger interessant findet. Das Tertiär (ein veralteter Begriff, den man eigentlich nicht mehr verwenden sollte) umfasst einen Zeitraum von vor 66 ¡Millionen! Jahren bis zum Ende vor zweieinhalb ¡Millionen! Jahren, in denen die Sedimente aufgeschichtet wurden, und dann nochmal die zweieinhalb ¡Millionen! Jahre, in denen die Flüsse ihre Betten graben konnten. Was wiegt da die Geschichte der Menschheit, die sich ach so wichtig nimmt, oder das einzelne Menschenleben, gar das eigene? Und das ist nur ein winziger Abschnitt der Erdgeschichte, im Ganzen müssen wir den Zeitraum von 13kommasechs ¡Milliarden! Jahre in Gedanken fassen ~ das dürfte die meisten von uns über unsere Grenzen treiben. Demut . . . ein etwas antiquierter Begriff, ist das, was da angebracht wäre. Und steht nicht im Widerspruch zu Begeisterung!
Am Morgen nach der ersten Nacht in dieser Umgebung, da stand ich noch etwas tiefer, zählte ich mit der Kaffetasse in der Hand, nur in eine Richtung blickend, fünfzig Windturbinen, die über die Kante der Hochebene spickelten. Insgesamt hat die Firma RWE auf dieser Seite des Huervas 160 dieser Energiequirle aufgestellt. Wer mag, kann sich die beiden Bilderchen durch Klick vergrößern und anfangen, die auf der anderen Seite zu zählen . . . und sich links und rechts vom Bild und die hinter der Kante stehenden dann dazudenken! 😉
Und ich? Ich stehe in Zaragoza, die Sonne kommt gerade heraus, werde heute arbeitsam meine Wäsche waschen und Besorgungen erledigen, unter anderem Material für einige Basteleien; danach tanken und weiter in Richtung Pyrenäen. Zaragoza wäre zwar eine sehr interessante Stadt, aber ich merke, daß die Erlebnisse in Cordoba im letzen Jahr noch nachwirken, auch wenn es Diebe nicht mehr so einfach hätten wie damals. Außerdem sind mir die Menschenmassen momentan emotional nicht so zuträglich. Ich werde noch ungefähr eine Woche im spanischen Teil der Pyrenäen bleiben, um den noch nicht erforschten östlicher liegenden Bereich zu erkunden . . . danach steht Frankreich an.
Heute zum Beispiel Himmel grau in grau, aus dem es ausgiebig und heftig regnet, dazu ein ekelhafter Wind . . . ein Glück, daß ich das Wetter von drinnen durch meine großen Scheiben beobachten kann. Dazu ein paar Bilderchen vom gestrigen Tag, an dem ich auch nicht allzuviel Sonne gesehen habe. Der alte Herr Magirus hat sich wacker geschlagen beim Durchqueren der Serrata de Cuenca. Steigungen und Gefälle bis über 12%, einmal mußten wir sogar in den zweiten Gang zurückschalten. Aber da bleibt noch Luft, buchstäblich. Mit dem Luftgekühlten Deutz-Motor krabbeln wir senkrecht die Wände hoch, ohne in Temperaturprobleme zu kommen, Hauptsache, der Untergrund trägt uns. Und der erste, auch Kriechgang genannt, den haben wir gestern nicht mal nutzen müssen 😉
Die Gegend hat wirklich phantatische Felsfomationen, aber genau da natürlich keine Haltemöglichkeiten für den alten Herrn Magirus. Und wenn, dann schon vorbei, und keine Wendemöglichkeit. Also Photo mit dem aufs Saugnapfstativ montierten Handy ~ die Balken sind Scheibenwischermechanik.
Das obige Bild wieder mit der ‚richtigen‘ Kamera. Eine auch in dieser Gegend ungewöhnliche Felswand, gebrochene Schichten, wie aus Ziegelsteinen gemauert. Auf Wunsch durch Klick vergrößerbar.
Ansonsten? Abwarten und erstmal frühstücken. Mal sehen, was der Tag noch bringt!
Ansonsten die Zeit nach Sonnenaufgang damit verbracht, den weiteren Reiseweg auszuarbeiten, und dabei festgestellt, daß mir der Überblick über meine Routen der letzten drei Winter fehlt. Es wird Zeit, eine neue (die alte liegt in Einzelteilen an den Falzen zerrissen) Spanienkarte mit dem Netz der Entdeckungen der letzten Jahre zu bemalen. Weil man sich zum einen besser und schöner erinnern, zum zweiten die aktuelle Route einfacher in ein neues, spannendes Gebiet legen kann . . .
Auch bei den Protokollen über die Zugriffe auf diesen Blog habe ich längst den Überblick verloren. In früheren Zeiten ließen sich noch menschliche und maschinliche Zugriffe unterscheiden, weil Bots und Spider in der Regel ordentlich gekennzeichnet waren. Seit ich aber einige politisch gefärbte Artikel über NSA/Datenschutz und Kapitalismuskritisches in diesem Blog veröffentlicht habe, herrscht Überschwemmung in den Logs. Viel Zugriffe aus Berlin, wo die Botschaften aller interessierten Länder sitzen. Ich selbst kenne da keine Handvoll Leute, aber der Blog hat da viele Freunde. Auch aus den anglo-assoziierten Ländern der Five Eyes, und um gerecht zu sein, natürlich auch aus ukrainischen, russischen und chinesischen Ecken der Welt. So gewinnt man also Freunde 😉
Aber ich bin ja nicht der einzige, der so langsam den Überblick verliert. Auch unser Kanzleramt, zuständig für die Kontrolle der Geheimdienste, auch des BND. Und der BND selbst, der bei der Unmenge von Selektoren, der Suchbegriffe, nicht mehr imstande war, die auszusortieren, die offensichtlich zur Ausspionierung der europäischen Rüstungsindustrie und europäischen Politikern in die von der NSA übermittelten Aufgabenlisten ~ sicherlich nur aus Versehen . . . ~ gerutscht waren. Aber immer noch ist das Kanzleramt mehr damit beschäftigt, unseren transatlantischen ¡Freunden! so tief wie möglich in den Hintern zu kriechen . . .
Auf der anderen Seite ist es ungeheuer wichtig, die zwanzig Männekens eines russischen Motorradklubs aufzuhalten, die eine Ausfahrt von Moskau nach Berlin zur Erinnerung an das Ende des zweiten Weltkriegs und die Rolle der Sovietarmee bei der Bekämpfung von Hitler und Nazi-Deutschland machen wollen. Aufgepaßt! Die Leutchen sind schließlich ¡Putin-Freunde! und deswegen ¡böse! Wer weiß, was die alles ¡Demokratiegefährdendes! auf ihren Maschinen transportieren. Polen hat vorsichtshalber dem Klub den Transit verboten, man hat ja seine Erfahrungen mit Russen, die in Richtung Berlin durchmarschieren . . .
In Deutschland überschlägt sich die Presse: Provokation! Die Russen kommen! Laut Bild, jederzeit Garant für korrekte Berichterstattung (¡uhhh!), hat die deutsche Botschaft in Moskau zehn Visa ausgestellt. Da das Bundesinnenministerium und die Sicherheitsbehörden ¡massive! ¡Bedenken! hatten, hat laut Bild das Kanzleramt das Auswärtige Amt aufgefordert, die Visa wieder zu annulieren . . .
Jaja, die ¡Freie Welt! Ließe man den Klub seine Reise machen, würden die vielleicht sogar auf den Trichter kommen, daß bei allen Verdiensten der sovietischen Armee bei der Terminierung des NS-Staats Stalin nun wirklich nicht viel besser war als Hitler . . .
Die Links lasse ich diesmal weg, kann jeder nach Wunsch in unseren Medien nachvollziehen. Und wie immer lassen sich die Bilderchen mit den *chen um den Kommentar mit Mausklick vergrößern . . .
So ganz stimmt das nicht, denn um da hinzukommen mußte ich erstmal eine große Schlaufe fahren; vom Standplatz des alten Herrn Magirus ist es zwar nicht weit bis zu dieser Brücke, aber eben in der Luftlinie. Zu Rad sind das gleich ein paar Kilometerchen. Als erstes Photomotiv dann ein kleines Häuschen, das für was auch immer zu diesem ehemaligen Bahnbetrieb gehören muß . . .
Die Via Verde de la Sierra de Alcaraz ist als Radweg auf einem kleinen Teil der einstigen Bahnlinie zwischen Baeza in Andalusien und Utiel in der Provinz Valencia angelegt, mehr oder weniger ist das die Strecke, die heute von der Nacional 322 bedient wird, der Straße, von der aus ich die 1927 gebaute und 1954 stillgelegte Bahnstrecke zuerst gesehen hatte. Vorbei an der Estacion de Salinera . . .
. . . einigen Tunneln und Viadukten (Arno bzw Chico Marx: why a duck? Das waren noch Zeiten, als Artikel gelesen und kommentiert wurden . . .) gings in Richtung Alcaraz. Allerdings nahm der ausgebaute Radweg, die Via Verde, kurz vor dem Ort ein jähes Ende 🙁
Da war wohl das Geld ausgegangen, die Arbeiten für die Weiterführung der Radstrecke waren zwar begonnen, dann aber offensichtlich eingestellt worden. Der Tunnel in Richtung Alcaraz gesperrt, aber bei meinem Hang zur Unterwelt und dem Sturkopf am oberen Ende . . .
Also trotz Absperrungen und Stoppschilder weiter, allerdings zu Fuß. Schon in den vorigen Tunneln hatte ich bedauert, meine Fahrradlampe vergessen zu haben, und das trotz der Erfahrungen, die ich schon letztes Jahr auf der Via Verde bei Olvera gemacht, aber bei den Vorbereitungen nicht präsent gehabt hatte. Die längeren Tunnels sind zwar beleuchtet, die Leuchtstoffröhren werden aber nur bei Bedarf durch Lichtschranken geschaltet. Und wie Leuchtstoffröhren so sind, brauchen sie, wenn älter, manchmal eine Anlaufzeit, manchmal flackern sie auch nur, wenn überhaupt. Wenn also mitten im Tunnel ein Segment zu spät oder überhaupt nicht aufleuchtet, fährt man in schwarzer Watte . . .
Für diesen gesperrten, unbeleuchteten, ungefähr 660 Meter langen, kaum planierten und gekrümmten Tunnel also mit einem hellen Bild auf dem Handy als matte Leuchtflächezu Fuß und gaaanz vorsichtig vorangekämpft. Fast nichts gesehen, eine Ahnung von Schotterbett, links das Gluckern eines Wasserlaufs. In regelmäßigen Abständen wurde das Licht dunkel (wtf?) und ging dann ganz aus ~ der Segen der Energiesparfunktion! 😉 Für den Rückweg, auf dem diese Bilder entstanden sind, habe ich das Handy als Filmkamera mitlaufen lassen, um die Kamerabeleuchtung nutzen zu können. Auf dem Film ist so gut wie nichts zu sehen, für meine Augen reichte es als Orientierung gerade mal so eben aus und dazu, eine aufgeschreckte Fledermaus zu registrieren, die vor mir ein paar Schleifen flog. Trotzdem war ich dann doch froh, als das Ende des Tunnels in Sicht kam . . . 😉 und die Frage der Fragen: wo ist die Taschenlampen-App hingeraten???
Ich wollte die Bahnlinie noch etwas weiter entlangfahren, denn ich hatte noch einen anderen Bahnhof in Erinnerung. Aber von nun an ging das nur noch ungefähr, die eigentliche Trasse war oft zugewuchert. So gings in Schlaufen über alte Brücken annähernd die Bahnlinie entlang. Die Geländer meist demontiert, denn das Eisen ist als Schrott beim Händler Bares wert!
Der Bahnhof war leider umzäunt, da wohl inzwischen als Firmengelände benutzt, und nach einer Weile war ich, immer noch an oder auf der ehemaligen Bahnlinie, auf dem ‚historischen‘ Fernwanderweg des Don Quixote . . .
Irgendwann ließ ich’s dann gut sein und machte mich auf den Rückweg. Freute mich an der Landschaft und den unglaublich intensiven Farben. Rote Erde, frisches Grün, blauer Himmel. Die Grundfarben der Monitortechnik so satt, daß sogar meinereiner mit einer in jungen Jahren ärztlich attestierten Rot-Grün-Schwäche die Farbkontraste als an der Grenze zu Kitsch und gleichzeitig bombastisch beeindruckend empfand. Aber was willst machen, wenn das so ist, dann ist das halt so!
Der alter Herr Magirus hat ein abgeschiedens Plätzchen auf einer Thymianwiese zwischen Steineichen und in früheren Zeiten aufgeschichteten Geröllmäuerchen aus beim Pflügen hochgearbeiteten Steinen gefunden. Und ich habe auf meinem Spaziergang ins anschließende Tal nicht nur ein schmales Bächlein mit kristallklarem Wasser entdeckt, das Google als Rio Cubillo, also als Fluß bezeichnet, sondern auch wild in vielen Büscheln wachsenden Rosmarin. Ein wenig aufpassen muß ich bei meiner Gewohnheit, die Zweige durch meine Hand gleiten zu lassen, um mich dann an diesem Geruch zu berauschen ~ ab und an mischt sich unter den blaßlila blühenden Rosmarin eine intensiv gelb blühende Ginsterart mit gar nicht weichen, sondern ausgesprochen spitzen Nadeln, die für ein starkes Autsch-Erlebnis sorgen 😉
Nichtsdestotrotz entbindet mich der Rio Cubillo in den 8-Liter PET-Flaschen, in denen ich hier mein Trinkwasser kaufe, zusammen mit einer Prise des weißen Silberionenpulvers zur Desinfektion von allen Sorgen um den fast leeren Trinkwassertank. Und so streife ich mit glückseligem Lächeln durch Duftwolken von Thymian und Rosmarin, Wäldchen aus Steineichen und unten am ‚Rio‘ aus Birken, und durch einen Tunnel in einem hohen Wall, der sich als Damm einer stillgelegten Bahnlinie herausstellt, der zu einer Via Verde (de la Sierra de Alcaraz) ausgebaut worden ist, wie man hier in Spanien und auch in Frankreich die auf ehemaligen Bahnstrecken angelegten Fernradwege nennt.
Die Via Verde führt unter einer Steinbrücke, über die nicht einmal mehr ein Feldweg führt, durch in die Hügel gefräste Kerben ohne nennenswerte Steigungen an einem verlassenem, mitten in der leeren Landschaft liegenden überdimensionierten Bahnhof vorbei, der zweistöckig offensichtlich zeitweise noch als Ziegenstall dient. Und wenn ich das gestern auf meiner Fahrt auf der Nacional richtig gesehen habe, über ein großes Viadukt und an den Ruinen anderer Bahnhöfe vorbei . . . ich werde also heute eine größere Radtour machen, nachdem ich meinen Drahtesel mehrere Monate nur als transportieres Hindernis im Innenraum des alten Herrn Magirus erlebt habe.
Diese Landschaft mit den wild wachsenden duftenden Kräutern, dem im Frühling intensiven Grün und dem darüberliegenden blauen Himmel und der strahlenden Sonne . . . so fühlt sich Glück an. Viel fehlt nicht zur Vollkommenheit. Aber dazu müßte man den Pegel des Rheins fragen . . .
So haben wir heute also die Sierra de Segura mit ihren schmalen gekräuselten Straßen und den aberwitzigen Steigungen und Gefällen verlassen und sind rechts auf die Nacional 322 abgebogen, auf der der alte Herr Magirus dahineilt als ob er ein Luftpolster unter den Pneus hätte. Kurz darauf weist ein Schild darauf hin, daß wir Andalusien verlassen und uns ab jetzt in der Provinz Castilla La Mancha befinden, der Heimat von Quixote. Gleich mit dem Wechsel der Provinz öffnet sich die Landschaft zu dieser sanft gewellten Ebene mit dem weiten Himmel darüber, und eine Palette von Farben springt uns an: frisch gepflügte rote Erde, das strahlend hell leuchtende Grün der noch jungen Getreidefelder, darauf gesprenkelt die Kugeln der dunkelgrünen Steineichen, darüber ein blau und weißer Himmel. Das im letzten Beitrag verwendete zwei Jahre alte Panorama war also ein Vorgeschmack, und daß ich an diesem Grün des obigen neuen Panoramas nicht gedreht habe, wird mir wieder keiner abnehmen. Seis drum, mir geht das Herz auf . . .
Der alte Herr Magirus frißt Kilometer und Bergketten. Nach der Sierra de Las Estancias und der Sierra de Maria sind wir jetzt an der Puerta del Pinar zwischen der Sierra de la Sagra und der Sierra de Taibilla angekommen, auf 1600 Metern und einer Nachttemperatur gerade mal eben über Zero . . .
Zwischendrin eine weite Ebene mit teilweise schnurgeradem Straßenverlauf. Ich frage mich, ob unter der Andalusia 317 eine alte Römerstraße liegt. Eine Frage, die sich auch mit Wikikpedia, sogar in der spanischen Ausführung, nicht so einfach beantworten läßt. Jedenfalls haben die zwei ersten Bilder, obwohl gestitchte Panoramen doch eher Schnappschüsse der gestrigen Fahrt, an ein nun fast zwei Jahre altes Panorama erinnert, das ich nun in der etwas größeren Auflösung von 2000 Pixeln Breite nochmal anhänge. Die Originalauflösung von 12434 Pixeln Breite erreicht das zwar immer noch nicht, aber es füllt einen FullHD-Monitor. Das Original würde auch einem der neuen 4K-Monitore nur zu einem Drittel der Breite draufpassen. Die vergrößerungsfähigen Bilder hier im Blog (*chen um den Kommentar) entsprechen halt im Detailreichtum lange nicht dem Original . . .
Eine Nachricht aus dem Internet gestern inspiriert mich zum heutigen Thema des Blogs, und ich weiß noch nicht genau, wohin mich das führen wird. Schaumermal, dann sehn mer scho, gelle!
Wim Wenders war für mich bis jetzt vor allem durch beeindruckende Filme bekannt, angefangen von der Highsmith-Verfilmung ‚Der amerikanische Freund‘ 1977 über ‚Paris, Texas‘ 1984, ‚Der Himmel über Berlin‘ 1987, ‚Lisbon Story‘ 1994, ‚Buena Vista Social Club‘ 1999 und ‚Pina‘ 2011, um nur die zu nennen, die ich selbst gesehen habe. Parallel zu seiner Regiekarriere hat er aber offensichtlich immer photographiert, eine Retrospektive zeigt jetzt einige seiner Photos, und ‚die haben etwas‘, um das mal so auszudrücken. Das Bild mit dem Hund vor Ayers Rock ist richtiggehend genial . . .
Das lesenswerte Interview zeigt einige Ähnlichkeiten in unserer Einstellung zur Photographie, das fängt schon mit der Schreibweise an, die wir beide trotz Rechtschreibreform (Deutschtümeln für Legastheniker in einer Zeit der Europäisierung und Globalisierung ~ wer kam blos auf die skurille Idee, international verständliche Begriffe in unverständliche deutsche Schreibweise zu verwandeln? pffffft!) hartnäckig verwenden. Photographie ist vom griechischen Wortstamm her das Zeichnen mit Licht, dem Motto, das auch über meiner Website steht. Es geht weiter mit der Einschätzung, daß Photographie im Gegensatz zur Filmerei als Teamwork eine notwendigerweise einsame Arbeit ist, weil nur im Alleingang die Möglichkeit besteht, sich wirklich auf das Objekt einzulassen, das für uns beide oft Landschaften sind. Auch in seinem Verhältnis zur Zeit in der photographischen Arbeit spricht er Dinge an, die für mich zentral im Verständnis von Welt und Photographie sind.
Unterschiede gibts natürlich auch: Wim Wenders photographiert streng analog mit einer Mittelformatkamera. Meine Mamiya 645 liegt eingelagert unter dem Sofa, ich bin heilfroh um die Möglichkeit, über die digitale Bildbearbeitung meine Vorstellungen eines Bildes zu realisieren, wie ich sie in analogen Zeiten so nicht hatte. Nicht um Bilder zu fälschen, sondern um die Aussage auf den Punkt zu bringen. Siehe da . . . Und im Gegensatz zu Wim Wenders, der immer aus der Hand photographiert, benutze ich sehr gern mein Stativ, zumindest das Einbein ist meist dabei. Zu Mittelformatzeiten habe ich es auch noch selten benutzt, aber mit einer leichten Digitalkamera hoher Auflösung stößt man sehr schnell an die Grenzen, wo sich ein Verreißen mit schlechter Detailwiedergabe rächt. Außerdem gibt mir das Stativ die Zeit und die Ruhe, die Bildkomposition auszuarbeiten.
Aber zurück zum Thema: Wie kommen die Kulturjournalisten auf die Idee dieser Titel? Bilder einer entleerten Welt ~ Wim Wenders ~ Blick fürs Sonderbare. Sind die Titel mit Wim Wenders abgesprochen? Eine kurze Durchsicht der veröffentlichten Photos bestätigt meinen Verdacht: Auf einem von zehn Photos ist silhouettenhaft eine weibliche Person abgebildet, das wars. Mit dem Fehlen von Menschen auf Bildern kann sich Kultur nicht abfinden, das ist ‚LEER‘ und ‚SONDERBAR‘, bleibt letztlich unverständlich. Und dieses Unverständnis transportiert sich auch in der sturen Schreibweise nach neuer deutscher Art entgegen der Einstellung des Künstlers, so what?
Ein kleiner Einschub am Rande, weil Wim Wenders auch Jim Jarmousch in seiner Arbeit gefördert hat und ein Link auf der Website der Deutschen Welle war (und ich dessen Filme auch seeehr mag), habe ich den auch gelesen. Der Autor Jochen Kürten verballhornt den Film ‚Down by Law‘, Unten durch Gesetz, durchgehend durch den ganzen Artikel (vom 1.4.2015, inzwischen haben wir den 19.) inklusive Bildunterschriften mit ‚Dawn by Law‘, Morgendämmerung durch Gesetz. Einen Tag später immer noch nicht korrigiert, soweit zum Thema Kompetenz, Qualitätsjournalismus, zum Thema Kultur . . . 🙁
Hier mal wirklich angebracht der Disclamer, den man auf meiner Website so nicht findet, der trotzdem und in diesem Fall ganz besonders gilt: Ich lehne jegliche Haftung für externe Links ab, deren Inhalte liegen ausschließlich in der Verantwortung der jeweiligen Autoren und Besitzer! 😉
Zurück zum Thema:
Schon vor Jahren, als ~ damaliger ~ regelmäßiger Kulturzeitschauer und Fan von Andrea Meier fiel mir auf, daß Themen, die nicht Mensch-zentriert sind, so gut wie keine Rolle spielten. Sogar wenn einmal Photographie, die Arbeit eines Photographen einen Beitrag wert war, waren in der Regel Menschen abgebildet. Ich kann mich nur an eine Ausnahme erinnern, wo es um Luftbildaufnahmen afrikanischer Landschaften und Tiere ging. Der Kulturbetrieb treibt menschliche Nabelschau, der Blick nach draußen ist ihr fremd.
Nun ist Kultur selbstverfreilich im Menschsein verankert, da sie im Gegensatz zur Natur Menschgemachtes ist. Daß sie sich Schwerpunktsmäßig mit dem Menschen befasst, erstaunt also nicht. Daß sie alles, was nicht den Menschen zum Thema hat, so gut wie ignoriert, befremdet mich schon. Denn das war nicht immer so, erreicht aber in unseren Zeiten der Selfie-‚Kultur‘ einen traurigen Höhepunkt: Man kann sogar spezielle Butt-Selfie-Sticks kaufen, auf die man sein Smartphone klemmt, um seinen eigenen Hintern zu fotografieren (man beachte die Schreibweise) und zu Fakebook oder Instagram hochzuladen.
Der Mensch ist das Maß aller Dinge . . . zumindest für den Menschen, insofern hat der alte Philosoph (nicht Filosof!) Protagoras schon recht, aber genausowenig, wie die Welt, das Universum in einen Fuß oder Meter paßt, läßt die Beschränkung auf den Menschen auch nur ansatzweise eine Erkenntnis des Universums, der Welt oder auch nur der Welt des Menschen zu. Erst das Ins-Verhältnis-Setzen des Menschen zu den Ausmaßen dessen, was außerhalb des Menschseins eben auch noch existiert, hilft da ein bisschen weiter. Und da versagt der moderne (früher: neuzeitliche) Kulturbetrieb, aber mit Karacho!
Die einzigen, die die entsprechenden Relationen des Verhältnisses vom Menschen zu seiner Welt noch im Auge haben, sind anscheinend Wissenschaftler: Geologen rechnen in Millionen von Jahren, Astronomen als Betrachter des Größten und (Astro- und Kern-)Physiker als Betrachter des kleinsten in Milliarden (genauer 13,8 über den Daumen) Jahren und als Distanz Lichtjahren (13,8 x 300000 x 60 x 60 x 24 x 365 km) . . . liegt vielleicht auch daran, daß in unserer jüdisch-christlichen und dann auch in der islamischen ‚Kultur‘ das Göttliche vermenschlicht (nach seinem Ebenbild) und damit auf menschliches Maß hinuntergebrochen wurde, während hinter den griechischen Göttern immerhin noch zwar personifizierte aber Natur-Gewalten steckten, vor denen man gerüttelt Respekt hatte. Wenn Zeus mal eben einen Blitz mit krachend Donner ins Haus schickte oder Neptun das Meer dynamisch an Land schickte, dann war das schon noch beeindruckend. Der heutige Gott jeglicher Provinienz kümmert sich nur noch darum, wer mit wem ins Bett geht und ob das Kind dann auch pflichtsgemäß ausgetragen wird. Waffen werden schon wieder für beide Kriegsparteien gesegnet, und dann aufeinander mit Gebrüll!
Und die Kunst? Ist zur Selbstdarstellungsorgie verkommen. Ob das mit den Konservendosen von Andy Warhol oder den Schießkünsten der Niki de Saint Phalle angefangen hat und wo es noch hingehen soll, keine Ahnung (aber davon viel! wie ein Kumpel von mir gerne sagt).
Über den Kunstmarkt läßt sich übrigens mehr Fundiertes sagen als über das Wesen und den Inhalt von Kunst. Dr. Martina Mettner hat das in der Zeitschrift c’t digitale Fotografie (04/14) so beschrieben (und ich hoffe, dieses kurze Zitat geht urheberrechtsmäßig durch): ‚Tatsächlich haben die meisten das Prinzip des Kunstmarktes nicht begriffen oder wollen es einfach nicht wahrhaben: Sie bieten eine Ware an, die nur wertvoll ist, wenn sie selten ist und alle sie haben wollen. Kunstmarkt ist Kapitalismus in Reinkultur . . . Der schöne Schein, es gehe um kulturelle Werte, muß unbedingt aufrecht erhalten werden, weil genau dieser ja Teil der Vermarktungsstrategie ist.‘
Zu diesem Kunstmarkt gehört logischerweise auch, daß extrem wenige Millionen für ein einziges Unikat erzielen wie Andreas Gursky, einem Feld- Wald- und Wiesenphotographen in Zeiten der Internetbildagenturen und CreativeCommons-Lizenzen für eine (große!) Veröffentlichung auf der Titelseite der Sonntagszeitung meiner seligen Heimatstadt der exorbitante Betrag von €uro 40,- (in Worten: vierzig €uro!) angeboten wird ~ und man noch dankbar sein soll, daß der Name des Photographen mit veröffentlicht wird. Wie auch immer ~ mit Dank abgelehnt!
Bleibt für einen, der seit seinem 14ten Lebensjahr die Photographie als Mittel zur Entdeckung und Kommunikation seiner Welt benutzt, weiter das zu tun, was er tut, und sich das Gefühl von Sinn dabei zu bewahren. Und die Freude an dieser Arbeit, auch wenn zur Finanzierung der Reisen und des Lebensunterhalts nur ‚mein guter Name‘ auf der Kreditkarte beiträgt 😉
Wieder eine Bergkette weiter, Sierra de Las Estancias. An Mandelbäumchen vorbei eine Rambla entlang der Andalucia 327 folgend hinauf zur Puerto de Santa Maria de Nieva. Bin mir nicht ganz sicher, was das heißt. Nieve ist der Schnee, nieva die Mehrzahl? Der Paß von der heiligen Maria der Schnees? 😉
Über die Bergkamm der Sierra de Las Estancias zieht sich die Kette von neuzeitlichen Windmühlen, die die Lebensäußerungen des Gottes Äol zu elektrischer Energie zermahlen, zur Befriedigung des Energiehungers der Menschheit. Als reisender Quixote sollte man laut Tradition zum Kampf antreten, aber dazu war ich gestern beim abendlichen Spaziergang unter den Giganten gar nicht aufgelegt.
Obwohl, die Windkraftwerke sind in der letzten Zeit etwas in Verruf geraten. Nicht nur, daß sie recht rabiat mit Fledermäusen umgehen, sie sollen durch Infraschallemissionen die Gesundheit von Mensch und Vieh stören. In Dänemark werden anscheinend keine neuen Anlagen mehr genehmigt, solange keine Forschungsergebnisse neue Erkenntnisse und Entwarnung bringen. Wenn die Dinger tatsächlich im nicht hörbaren Infraschallbereich lärmen, ist die Gefahr nicht ganz an den Haaren herbeigezogen. Ich glaube, mich an einen Bericht über einen Versuch des britischen Militärs in den siebziger Jahren erinnern zu können, Infraschall als Waffe einzusetzen, zur Erzeugung von Massenpanik, anscheinend mit einigem Erfolg . . .
Bei mir keine Panik. Allerdings kommt schon eine ganz eigene Stimmung auf, wenn im goldenen Abendlicht auf tausendeinhundert Metern Höhe bei sonst totaler Stille als einziges Geräusch das pulsierende Sausen der Rotoren die akustische Welt macht: wuuuuusch! ~ wuuuuusch! ~ wuuuuusch! und ab und an ein metallisches Klonnng!, wenn wohl die Steuerungsmechanik einrastet, um die Turbine neu zum Wind auszurichten . . . ein in diesem Fall wohliges Gefühl von Einsamkeit, das nichtsdestotrotz Gedanken über Abwesendes in Gang setzt . . . muß Mensch aushalten können . . . und, um ehrlich zu sein: wenn ich ständig an meinem Wohnort diesem Geräuschteppich ausgesetzt wäre, würde ich mich auch bedanken.
So aber genieße ich den Blick gegen das Abendlicht zur nächsten Sierra de Maria und hinunter in die westlich liegende Rambla . . .
Ach ja, wie immer: Bilder mit Sternchen um den Kommentar lassen sich durch Klick vergrößern 😉
Nach 36 Stunden ausgiebigen Regens, damit Andalusien noch grüner wird 😉 und die ich genutzt habe, um die letzten zwei verspäteten Artikel endlich ins Netz zu setzen, lassen wir (der alte Herr Magirus und meine Wenigkeit) uns mehr oder weniger langsam nach Norden treiben.
Durchquerung der Sierra Alhamilla, der missglückte Versuch, in Lucainena die Lebensmittelvorräte zu ergänzen, weil morgens die Kaffemilch gestockt war. Da besteht die erhöhte Gefahr, daß mit einem verdorbenen Morgenkaffee auch der restliche Tag versaut wird. Also in Lucainena einem Schild zum Supermarkt folgend links abgebogen, und die Erfahrung von spanischen Gebirgsdörfern/städtchen wiederholt. Die Straße wird immer enger, es geht um Kurven und Ecken, die wir gerade noch so meistern, ohne an irgendwelchen Häuserwänden zu schrammeln, vorbei an einem Café mit Aussenbestuhlung und einem englischen Paar auf der anderen Straßenseite, bis die Exkursion an einem bis zu einem Drittel der Straße aufgebauten Baugerüst ein schon vorher befürchtetes Ende findet. Pffffft! Da geht nichts mehr! Also die vier-, fünfhundert Meter im Rückwärtsgang mit Fuß auf der Bremse wieder zurück und abwärts . . . um die Ecken links den Spiegel weggeklappt, um auf der anderen Seite die nötigen Zentimeter Platz zu schaffen . . . das ganze absolviert ohne Feindberührung, glücklicherweise. Den Supermarkt allerdings nicht zu Gesicht bekommen, und trotzdem heilfroh, aus der Geschichte ohne Kratzer herausgekommen zu sein!
Nach dem abendlichen Minimaleinkauf in Sorbas (H-Milch, igittigitt, und getoastete halbe Brötchen mangels richtigem Brot) die Fahrt durch die nächste querliegende Gebirgskette der Sierra de los Filabres, vorbei an einem Marmorsteinbruch, vor allem aber an vielen wunderschönen Mandelbäumen. Wegen der dunklen Rinde, die mich zuerst verwirrenderweise an frisch geschälte Korkeichen erinnert, dauert es eine Weile, bis ich sie richtig identifiziert habe.
Auf der anderen Seite der Sierra wieder abwärts lasse ich die Mandelbäume hinter mir, hier hegt man wieder Oliven. Die Landschaft erinnert mich immer mehr an den heimatlichen Kaiserstuhl, wo er nicht von den gigantomanischen Weinbau-Monopolterrassen verunstaltet ist. Weiche Formen und ob des diesjährigen Regens viel Grün. Ich komme mir also fast wie zu Hause vor, und beim Spaziergang an meinem Übernachtungsplatz stellt sich auch heraus, daß der Boden hier weitgehend ebenfalls aus einer dicken Schicht Löß besteht.
So weit, so gut die Realität um mich herum . . . erlaubt mir aber einen kleinen Ausflug in die politische ‚Realität‘, die mich über die stets präsente Internetverbindung erreicht: Unsere erhabene Regierungskoalition hat einen neuen Anlauf, genannt Kompromiss, zur Vorratsdatenspeicherung auf den Weg gebracht, nachdem sowohl das Bundesverfassungsgericht als auch der EuGH die anlasslose Datensammelei als verfassungswidrig abgeschmettert hatten. Wie der Kommentar in der Frankfurter Rundschau ganz richtig bemerkt, handelt es sich bei diesem ‚Kompromiss‘ um das Zugeständnis, daß der Dieb nicht ganz so lange in der Wohnung bleibt, in die er eingebrochen ist, und nicht alles mitnimmt, was ihm unter die Finger gerät . . .
Ich höre schon wieder die beschwichtigenden Kommentare derjenigen, die sagen, es ginge ja ’nur‘ um die Metadaten, es würden keine Inhalte aufgezeichnet, und ‚man‘ hätte ja nichts zu befürchten, so als braver Bürger . . . zuletzt habe ich dieses ‚ich habe ja nichts zu verbergen‘ von einer Bekanntschaft hier gehört, der mir noch zehn Minuten vorher erklärt hatte, daß ihn seine Krankenversicherung nur die Beiträge für das halbe Jahr Auszeit erlassen hätte, weil er eine Bescheinigung vorlegen konnte, daß er ohne Geld zu verdienen an einem Projekt außerhalb der EU mitarbeiten würde. Wobei die Metadaten seines deutschen Handys natürlich jederzeit seinen Standort in der EU verraten. Da bleibt man sprachlos, leider. Auch bei mir kam die Erkenntnis mit Präzisions-Spätzündung.
Was Big Data, die Zusammenführung aller möglichen vor allem ‚Meta‘-Daten alles herausfindet und welche Auswirkungen das im konkreten Fall Kreditscoring hat, darüber berichtet ein Artikel in der Welt – sollte sich jeder dieser ‚ich hab ja nichts zu verbergen‘ mal zu Gemüte führen und sich intensiv Gedanken darüber machen, was das für Auswirkungen hat: auf seine Kreditwürdigkeit, vielleicht sogar darauf, überhaupt ein Girokonto von einer Bank genehmigt zu bekommen, ob er eine Lebensversicherung abschließen darf und zu welchen Konditionen, ob die Krankenkasse Behandlungskosten übernimmt oder nicht, ob er bei einer Bewerbung zu einem Job oder der Miete einer Wohnung wenigstens zum Vorstellungsgespräch zugelassen wird, wenn in Zukunft Algorithmen diese Entscheidungen treffen. Und der Witz dabei ist, daß keiner mehr eine Begründung für diese Entscheidungen angeben kann. Der selbst lernende Algorithmus verrät das nicht einmal dem, der ihn ursprünglich programmiert hat!
Was an der Politik frappiert ist, mit welcher Frechheit ein von den Verfassungsgerichten unserer Republik und dem obersten Gerichtshof der EU als verfassungswidrig deklariertes Gesetz in einer Neuauflage wieder aufs Gleis gesetzt wird, die in der Sache nicht die Bohne verändert worden ist. Das bestätigt wieder mal meinen Verdacht, daß die Leutchen, die immer von anderen die explizite Bestätigung haben wollen, daß sie auf dem Boden des ‚freiheitlichsten Grundgesetzes auf deutschem Boden‘ stehen, diese beachtenswerte Fixierung der Bürgerrechte nie gelesen haben oder im Zweifelsfall schlicht ignorieren, wenn eigene oder die Interessen der Lobby durchzusetzen sind, die einem Vorteile verschafft hat oder verschaffen wird.
Das Argument, nur auf diese Weise würde der Staat dem Terrorismus oder Sexualverbrechern habhaft, wird durch die belegbaren Tatsachen ad absurdum geführt: ‚In diesen 56 Fällen ging es unter anderem um 16 Diebstähle, zwölf Drogendelikte, zwölf Fälle von Stalking, aber in keinem einzigen Fall um Terrorismus und schwere Kriminalität‘ (Zitat aus dem verlinkten Artikel). Und die Bemerkung von Sigmar Gabriel, daß mit der Vorratsdatenspeicherung die Attentate der NSU hätten verhindert werden können, gehören definitiv in die Sparte Politsatire. Denn die NSU wurde wie die gesamte rechte Szene über die V-Leute der staatlichen Dienste finanziert und damit aufgebaut, und dieselben Dienste sperren sich wie diese unsere Bundesregierung mit allen schmutzigen Mitteln gegen die Aufklärung der Vorgänge. Akten werden flott geschreddert, dem Untersuchungsausschuß verweigert oder nur hochprozentig geschwärzt zur Verfügung gestellt, Zeugen der Dienste dürfen nur Ungefährliches aussagen, andere bringen sich vor einer bevorstehenden Vernehmung vorsichtshalber um. Ein Schelm, wer Böses sich bei denkt!
Noch ein Artikel zur Sache, aus der Zeit. Das Bundesamt für Verfassungsschutz richtet ein Referat von 37 Mitarbeitern ein, das im Internet soziale Netze überwachen soll und eben auch über Metadaten Bewegungs- und Beziehungsprofile erstellen soll. In den USA ist übrigens den entsprechenden Diensten zumindest offiziell verboten, US-Amerikaner zu beobachten, hier in Deutschland ist es selbstverständlich ganz ausdrücklich erlaubt, Deutsche, will heißen, die eigenen Bürger zu bespitzeln. In diesem Artikel wird erwähnt, daß der Datenschutzbeauftragte des BND im NSU-Untersuchungsausschuß aussagte, daß der BND bis in die vierte und fünfte Ebene der Kontakte einer Verdachtsperson sammelt und unter Umständen auch an das Bundesamt für Verfassungsschutz übermittelt. Wieviele Kontakte habt ihr in eurem Smartphone gespeichert, Telefonnummern, Emailadressen? Wieviele diejenigen, die ihr gespeichert habt, auf ihren Geräten, und weiter bis in die fünfte Ebene? Wer will dafür eine Garantie der Harmlosigkeit geben?
Ich weiß ja, daß wir alle, und vor allem unsere Innenminister, nur mit unseren / ihren angetrauten Ehepartnern (häh bitte?) vögeln, beziehungsweise wenn doch nicht nur, dann zumindest mit einer doppelten Lage Regenmäntel zur Sicherheit. Leute, es wird Zeit, daß das Zeitalter von Safer Sex ausgeweitet wird auf ein Zeitalter von Safer Data, in dem vor allem, aber nicht nur, der Staat, unser fürsorglicher Papa (harrharrharr!) sich an die Spielregeln unseres Grundgesetzes hält und die Bürgerrechte, und vor allem die nicht umsonst eingezogenen Grenzen der Rechte des Staates respektiert!
Was tun? Online-Unterschriftsaktionen greifen definitiv zu kurz. Kein Politiker kümmert sich um Sofademonstrationen. Sascha Lobo empfiehlt, nach der provokanten Frage, ob die Tochter des Vorratsdatenbefürworters es sich noch erlauben können wird, für ihren Studienplatz zu demonstrieren, seinem Abgeordneten Dampf zu machen, gegen diese Gesetzesvorlage zu stimmen. Wohl gesprochen! Aber mal abgesehen davon, daß die Abgeordneten, die ich wähle, meist gar nicht erst in die Parlamente kommen. Wer sich da durch die Selektionsmechanismen unser Parteien hochgekämpft hat, ist schon sehr weit von unserer Welt abgekoppelt und lebt in der Welt der Einflüsterungen der Lobbykratie. Trotzdem: dranbleiben, nachdenken, vor allem selber denken!