Grund zum Heulen . . . Bergen – Belsen

Die Wand der Erinnerung

Eigentlich nicht geplant, aber da es mehr oder weniger direkt auf meiner Route lag . . . ich hatte noch nie ein KZ besucht, zu meiner Schulzeit war das noch nicht allgemeines Programm. Im Geschichtsuntericht sind wir irgendwie nie zum 3.Reich gekommen, da waren die Könige und Kaiser vorher zu wichtig. Ich überspitze das jetzt ein wenig, aber im Grunde stimmt das, und das an einem „progressiven“, sozialdemokratisch durchwachsenen Gymnasium. Das, was ich weiß, hab ich mir aus Büchern und Filmen angeeignet. Also konnte ich an der Gedenkstätte Bergen-Belsen nicht einfach vorbeifahren.

Zur Einstimmung vorher kilometerlang an Sichtschutz und Stacheldraht des Nato-Übungsgeländes in der Lüneburger Heide vorbeigefahren . . . schon zu Kaisers Zeiten hats in der Heide Truppenübungsplätze gegeben, und nach dem 2. Weltkrieg hat sich das die Nato einverleibt. Panzer, Artillerie, alles kann man hier prima ausprobieren . . . wie man das zusammen passend macht mit einer KZ-Erinnerungsstelle?

Es hat das Erlebnis jedenfalls extrem verstärkt. Wenn man das Gelände des ehemaligen KZs betritt, führt der Weg an großen, flachen, ungefähr 1 Meter hohen Hügeln vorbei, in der Mitte jeweils eine große Steintafel: Hier ruhen 800 Tote, hier 1000, 2500, 5000 . . . und im Hintergrund ständig Artilleriefeuer, Salven in Sechsergruppen. Ich sag euch, mir hats die Tränen mit Macht in die Augen getrieben, Tränen der Scham, wie sie mich immer befällt, wenn ich mit den Hirnverwirrungen dieser Zeit konfrontiert werde, Tränen der Wut, weil die unterbelichteten Arschlöcher dieser Welt ja nicht sehr viel daraus gelernt haben.

Zuerst wars ein Kriegsgefangenenlager, in dem ungefähr 20000 Sowjetische Kriegsgefangene gestorben sind, denen die Nazis sämtliche von der Genfer Konvention auch von Deutschland garantierten Rechte aberkannt wurden. Sie mußten sich sogar Erdlöcher buddeln, eine Unterkunft gabs nicht. Essen gabs ein kleines Kastenbrot (in dem wohl mehr Säge- als Mehl vorhanden war), hart wie ein Backstein, für 7! Personen und Rübensuppe, die wohl auch fast nur aus Wasser bestand. Todesrate der sowjetischen Kriegsgefangnen in Deutschland für den 2. Weltkrieg: 57% – Westalliierte wurden besser behandelt, da starben „nur“ 3,5%. Ich hab kein Komma vergessen und keins hinzugefügt . . . Der Friedhof für die Kriegsgefangenen liegt einen Kilometer weit im Schießgebiet der Nato, es gibt einen beschilderten Weg dahin. Die Beschilderung besteht zu 90% aus Warnschildern: Sperrgebiet, Schießgebiet, Anfassen und Mitnehmen von Pi Pa Po strengstens verboten, Lebensgefahr . . . ach ja, und 2 bis drei Hinweisschilder auf den sowjetischen Kriegsgefangenenfriedhof, ohne Entfernungsangabe. Ich bin wohl ungefähr auf der Hälfte umgekehrt.

Ab 1943 dann ein „ziviles“ Konzentrationslager der SS. Mindestens 52000 Männer, Frauen und Kinder sind in diesem KZ umgekommen. Juden, Sinti und Roma, Polen, Ungarn, Schwule und was sonst noch für die Nazis als „unwertes Leben“ galt. Auch Anne Frank ist hier gestorben.

Die meisten Opfer gab es übrigens gegen Ende des Krieges, weil die Nazis aus anderen Konzentrationslagern, die befreit zu werden drohten, Gefangene hierher brachten, allein 35000 starben von Januar 1945 bis zur Befreiung am 16. April 1945. Die Briten fanden zigTausende unbestatteter Leichen im Lager, so viele, daß sie mit Bulldozern ins Massengrab geschoben werden mußten!
Von den 38000 Überlebenden in den 70 Baracken des KZs und den 15000 in den Unterkünften der Kaserne starben nochmal an die 13000 trotz sofort einsetzender medizinischer Versorgung der Alliierten in den folgenden Monaten durch die Folgen der Unterernährung, Krankheiten und Seuchen. Wegen der Seuchengefahr wurde das Lager auch abgebrannt.

Sicher, es war nicht der erste Genozid der Geschichte, auch in der Zeit davor haben die europäischen Mächte in ihren Kolonien und die Amis bei der Eroberung ihres Kontinents sich einen Teufel um die Menschenrechte gekümmert, aber der großindustrielle Maßstab, das bis ins kleinste durchorganisierte, dazu hat es wohl uns Deutsche gebraucht. Danach gabs Stalin, gabs Pol Pot, Vorfälle in Afrika und auf dem Balkan.

Und die Welt ist verdammich nicht viel klüger geworden. Immer noch gibts in unserem Land (und anderswo) jede Menge unterbelichter, großkotziger Arschlöcher (wer sich getroffen fühlt, mag mich verklagen), die Deutschland den Deutschen (oder vergleichbaren Unsinn) gröhlen, und noch mehr, die nicht ganz so weit rechts stehen, sich als die Mitte bezeichnen, und auf der Welle reiten, die die ersteren Deppen aufwerfen.

Unser Asylrecht, das gerade wegen unserer „tausendjähriger“ Geschichte ins Grundgesetz aufgenommen wurde, ist schon kein Feigenblatt mehr, das Blättchen ist von einem Buchsbaum gepflückt.

Manchmal kotzen mich die Menschen an, besonders wenn sie nur ihre eigenen kleinen und großen vermeintlichen „Interessen“ und ihr Brett vor dem Kopf im Blick haben. Manchmal würde ich gerne die alte Tradition des römischen Zirkus wieder einführen, allerdings nicht um Kriegsgefangene aufeinander zu hetzen – es sollten die mit blanken Waffen selbst gegeneinander antreten, die – in der Regel um des eigenen Vorteils – andere aufhetzen zur blutigen Gewalt. Die sollen die Sache unter sich ausmachen, bis keiner von den Egomanen mehr übrig ist!

Ich mach jetzt Schluß, ich hab mich in Rage geschrieben. Aber das war wirklich heftig heute!

Nur noch eines, eine persönliche Meinung, nichts, was ihr unbedingt teilen müßt. Ihr alle, die ihr in Gruppen mit einem Lehrer oder im Rahmen der politischen Bildung ein KZ besucht habt. Machts nochmal alleine. Man kann sich, denke ich, alleine gegenüber 70000 Toten nicht so drücken um die Betroffenheit. Und die Betroffenheit, die ist wichtig!

6 Antworten auf „Grund zum Heulen . . . Bergen – Belsen“

  1. Verstehe dich vollkommen und teile deinen Abscheu!

    Bei mir in der Schule war es anders, ich durfte mir alle FWU Filme mindestens 5-mal ansehen! Macht die Sache nicht besser, hilft aber beim nachdenken. Wer heute noch den Holocaust leugnet, muß geistig blind sein.

    Und es stimmt, andere waren ähnlich, aber deutscher Perfektionismus hat den Genozid industriell gemacht!

    Allerdings gibt es eine Menge Europäer, die in ihrer vergangenen Größe schwelgen und ihre eigenen Gräuel vergessen. Wer werfe den ersten Stein? Ich nicht!

    Versöhnliches: Schoggi! gehts gut, gelle?

    Grüßle, Rainer

  2. Ja, ich finde Genozid (wie grundsätzlich jede Art von Mord und Gemetzel) auch widerlich, ekelerregend und beschämend. Und es kotzt mich an, dass es zu jeder Zeit nach wie vor „Menschen“ und Gruppen gibt, die ihre kranken Wertvorstellungen ungestraft in aller Öffentlichkeit auf Kosten „Unschuldiger“ durchsetzen. Ich bin Deutsche, aber ich fühle mich als Weltbürgerin und trotz aller Scham als Mensch weigere ich mich, mich als Deutsche für die Untaten von Deutschen verantwortlich und schuldig zu fühlen, die zu einer Zeit begangen worden sind, als ich noch nicht auf der Welt war.

    Ich habe im Jahr 2000 das Jad Vashem in Jerusalem besucht und die gleichen Gedanken und Emotionen gehabt wie Du in Bergen Belsen. Gleichzeitig stieg aber auch eine große Wut in mir auf, weil ich gemerkt habe, wie die Schuldgefühle finanziell ausgenutzt werden, heute noch, Generationen danach, als ob man dadurch die Toten wieder lebendig machen könnte. Und es gibt kein Verzeihen solange mit diesen Schuldgefühlen Geld gemacht werden kann! Nun, ehrlich gesagt, hätte ich im dritten Reich gelebt, weiß ich nicht, wie ich mich verhalten hätte und auf welcher Seite ich gestanden wäre. Man weiß meistens erst hinterher, was richtig oder falsch ist.

    2009 war ich in Phnom Penh und habe dort die Killing Fields (Gedenkstätte: Massengräber und ein Turm, gefüllt mit Totenschädeln aus der Zeit der Roten Khmer/Pol Pot) sowie das Toul-Sleng-Genozid-Museum (=Foltergefängnis/S 21 des Pol Pot Regimes) besichtigt. Wieder große Betroffenheit und Entsetzen. Aber: Wozu diese ganzen Gedenkstätten und Mahnmale, wenn der Mensch nichts daraus lernt? Sie machen vermutlich nur diejenigen betroffen, die sowieso nicht den ersten Stein werfen!
    ….
    Zitat aus „Der kleine Prinz“: „An einem Tag habe ich die Sonne dreiundvierzigmal untergehn seh’n!“…..“Du weißt doch, wenn man recht traurig ist, liebt man die Sonnenuntergänge…“

    Trotzdem einen schönen Donnerstag. Übrigens, heute ist „Mariä Geburt, do fliege d’Schwalbe furt“..will sagen, der Herbst steht vor der Tür. Hoffentlich wird er schön bunt, nicht nur wegen der Fotos! 😉

    1. Ich glaub, die Gedenkstätten sind wichtig, damit man die Deppen mit der Nase drauf stoßen kann. Nicht zu erinnern wäre die Kapitlation vor der Dummheit, Arroganz und Borniertheit der Deppen und der Mächtigen und derer, die von der Macht träumen. Nicht zu erinnern würde auch denen, die nicht den ersten Stein werfen (und meistens auch nichts gegen die Steinewerfer tun), also auch uns selbst, die Chance des Lernens aus Geschichte nehmen.
      Sicher, wir leben, wie das unser Bundeskohl mal ausgedrückt hat, in der „Gnade der späten Geburt“, uns trifft also nicht die persönliche Schuld des unmittelbar oder mittelbar Beteiligten. Verantwortung werden wir trotzdem zu tragen haben, weil wir uns weder aus unserer Sozietät (um den immer wieder mißbrauchten Begriff „Volk“ zu vermeiden) noch aus der Menschheit und auch nicht aus der Zeit herauslösen können. Shit happens, und der Mensch lernt wenig daraus. In diesem, und nur in diesem Sinne, macht der christliche Begriff der Erbsünde Sinn (sowohl im gesellschaftlichen Kontext wie hier oder auch im persönlich-psychologischen Kontext der Tradierung von seelischen Schäden von Eltern zu Kindern, ohne Ende . . . ). Verantwortung auch deshalb, weil gerade wir (West-) Deutschen mit unserem vergleichsweise hohen Wohlstand (Exportweltmeister!) immer noch profitieren von einer technischn und wirtschaftlichen Entwicklung, die ihren Anfang in Kriegswirtschaft, Zwangsarbeit und Ausbeutung der eroberten Gebiete genommen hat, und daß uns die Westalliierten „verziehen“ und uns mit Krediten aufgepäppelt haben, weil sie uns im neuen Konflikt des kalten Krieges gebraucht haben. Und viele alten „Würdenträger“ waren ganz oben mit dabei, genauso wie die Banken und die Industrie, groß und klein. Es hatte kein Ende, und wir waren mittendrin . . . und haben ganz gut gelebt dabei . . .
      Ich hab mir im Vorfeld übrigens auch Gedanken darüber gemacht, ob da wohl Geld agezockt wird. Bergen-Belsen kann man aber ohne einen Cent in der Tasche besuchen. Wäre ja auch ein ziemlicher Hammer, wenn Angehörige von Opfern oder gar Überlebende auch noch Eintritt bezahlen müssten.
      Geld verpulvert wird übrigens richtig satt auf dem Nato-Übungsplatz. Auf dem Campingplatz, auf den ich mich zur Vorbereitung der Ausstellung im Oktober zurückgezogen habe, hörte ich bis fast 22 Uhr gestern und auch heute früh schon wieder in der Entfernung die Salven der schweren Waffen . . .
      Ich war übrigens vorhin gerade bei der Bearbeitung eines Sonnenaufgangs . . . kann man auch 43 Mal am Tag. Ist so wie mit dem halb vollen und dem halb leeren Glas. Und traurig oder nicht – ich liebe sie, die Sonnenuntergänge wie die Sonnenaufgänge, sie machen mich richtig glücklich! ;-}

  3. Du hast schon recht mit dem, was Du da schreibst. Ich tu auch zu wenig gegen die Steinewerfer. Früher war ich aktiver, zwischenzeitlich übe ich eher so eine Art passiven Widerstands, indem ich mich dem System so weit wie möglich entziehe und mir recht genau überlege, wie ich handle und mich verhalte, wen ich mit meinen Handlungen unterstütze, was ich wirklich brauche und was nicht. Aber man hängt trotzdem drin.
    Schön in Worte gefasst, Deine Interpretation von Erbsünde! Wenn die Institution Kirche nicht ebenfalls Vorteile von der Verdummung der Leute hätte, würde so Manches anders ausgelegt werden…
    Es stimmt schon, dass es den Deutschen, wir mittendrin, vergleichsweise mit anderen Ländern materiell sehr gut geht und dass alles Gejammer auf hohen Niveau stattfindet. Dass jedoch dieses materialistische Denken auf Kosten des gesunden Geistes und der Psyche geht und die sozialen Strukturen angreift, scheint dabei kaum jemanden zu interessieren. Es kann nur einen Aufschwung geben, wenn’s vorher bergab ging, dafür sind unter anderem die Kriege da. Und es ist immer so, dass das, was einer zuviel hat (und über diese „zuviel“ gehen die Meinungen ganz krass auseinander, weil keiner genug haben kann), einem anderen fehlt. Ja, insofern Verantwortung…
    Sonnenuntergänge und Melancholie, das war der kleine Prinz und seine Rose. Bei Dir ist das ganz anders, Du bist ein Gr0ßer, und anstatt der Rose hast Du Deine Gaaatz ;-). Grüsse an Schoggi! 🙂 Und ich geh mal davon aus, dass unser gemeinsamer Sonnenuntergang nicht der erste+letzte war 😉 auch wenn vielleicht nochmal drei Jahre vergehen. Alles Liebe!

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