Es mag daran liegen, daß ich gerade mal wieder Umberto Ecos ‚Name der Rose‘ lese, daß mir ständig Madonnen und Engel über den Weg laufen (Reisezeit ist literaturmäßig Wiederholungszeit). Auch auf diesem Friedhof im Languedoc (wo man einst das Oc sprach, die Zunge des Occidents), auf dem alte, vergessene Gräber abgeräumt werden, um Platz für neue Verstorbene zu schaffen, findet sich in einem der verfallenden Grabhäuschen, wie sie sich die wohlhabenderen Bürger leisten, in einer Ecke hinter der Eingangstür abgestellt, eine Madonnenstatue mit verklärt leidendem Blick, von der man, und sie selbst am wenigsten, weiß, was mit ihr geschehen wird . . .
Das verklärt Leidende, oder anders, die Verklärung des Leidens, von Schuld und Sünde, zieht sich durch die ganze christliche Religion. „Penitenziagite“, tut Buße, das riefen ketzerische Fratizellen im Mittelalter, „denn die Zeit ist nahe . . . “ Gemeint war die Zeit des jüngsten Gerichts, wo die Guten in den Himmel kommen und die Bösen (oder auch nur weniger Guten) in der Hölle brennen sollten.
Wenn sie wüßten, wieviel Zeit seither vergangen ist und wie sich die Welt gewandelt hat ~ und doch gleich geblieben ist. Genau so penetrant wie damals der verklärt leidende Blick wird dem Menschen heute das Bild des verklärt gutgelaunten, dümmlich grinsenden Verbrauchers in den Prospekten unserer Konsumtempel um die Ohren geschlagen. Konsumiert, und ihr werdet glücklich sein!
Damals war die Religion das Werkzeug, um die Herrschaftsstrukturen zu stabilisieren, um die Rechte und Privilegien der oberen Hierarchiestufen im weltlichen und im kirchlichen Bereich aufrecht zu erhalten. Wir nun leben in einer Welt, in dem die Arbeit im ‚Schweiße des Angesichts‘ nicht mehr so wichtig ist, da in vielen Bereichen Arbeit von Maschinen erledigt wird, oder weit weg in Pakistan oder China, wo wir die miserablen Arbeitsbedingungen und die Umweltsverschmutzung nicht so genau mitbekommen. Wichtig bleibt in jedem Fall, daß Mensch konsumiert, damit der Kreislauf des Geldes sich weiter dreht, zum Wohle der Wenigen. Wachstum, Wachstum über alles, über alles auf der Welt! Hat sich wirklich so viel geändert?
Die Zeit jedenfalls, sie vergeht, ungerührt. Nicht nur für die Lebenden, auch für die Toten, und für die Dinge, die mit dem Umgang des Menschen mit seiner Sterblichkeit zu tun haben. Nicht nur das Leben, auch das Tot-Sein hat ein materielles Ende, wenn denn die Pacht für das Grab nicht mehr bezahlt wird. Und auch an den Dingen, die wir um das Tot-Sein herum arrangieren, nagt, wie man so schön bildlich sagt, der Zahn der Zeit.
Und Marie Jeanne, die nun vor fast einhundert Jahren gestorben ist, im Alter von elfeinhalb Jahren . . . ihr Grab ist abgeräumt, die emaillierte Herz-Plakette, die an sie erinnern sollte, lag in einem Eimer, bereit zur Beseitigung. Nicht mehr lange, und niemand wird sich mehr an sie erinnern.